Das Gesellschaftshaus zur Stube

Hoch über Rheingraben und Unterstadt thront das uralte Gesellschaftshaus der Trinkstube zu Rheinau – ein markantes Gebäude an dominanter Stelle!

Kein Zweifel: Beim mächtigen Massivbau mit dem riesigen Krüppelwalmdach und den spätgotischen Fensterreihen muss es sich um ein Haus mit bedeutender Vergangenheit handeln.

 

Der unregelmässige Grundriss deutet auf Vorgängerbauten hin, und die exponierte Lage lässt deren Funktion als Wacht-, Wehr- oder Präsentation- bauten erahnen.

Im vierten Jahrhundert nach Christus war der Hochrhein zur Grenze des römischen Rheines ge- worden. Kaiser Valentinian I. liess zwischen Basel und Bodensee über 50 Wachttürme erstellen. In dieser Kette von Wachttürmen, die unter- einander Sichtverbindung hatten, fehlt auf Rheinauer Gebiet zwischen den bekannten Standorten Elliko- nerwald und Rötibach bei Dachsen eine strategisch unverzichtbare Warte: Jene nämlich, welche die Halbinsel Rheinau sichern konnte. Sie muss am Platz des späteren Hauses zur Stube gestanden ha- ben, denn nur von hier aus konnte man die gesamte Rheinschleife lückenlos überwachen.

 

Man darf also annehmen, dass der erste Vorgängerbau der Stube ein römischer Wachtturm war.

An seine Stelle trat im Mittelalter die Burg des Grafen Rudolf von Lenzburg. Dieser hatte 1125 die Schirmvogtei des Klosters Rheinau an sich gerissen und nützte die Wirren um die Thronfolge des deutschen Königs, um seine Macht auszubauen, indem er Rheinau mit Mauer, Graben und Burg befestigte.

«... et in eius fundo castrum construere, quod monasterio valde damnosum est...»:

«...und auf seinem Grund eine Burg zu bauen, was dem Kloster sehr schädlich ist...»

beklagt sich der Papst beim Bischof Ulrich von Konstanz in einem Schreiben vom April 1126 und bittet ihn, dem unrechtmässigen Vorhaben ein Ende zu setzen. Erfolglos: aus Urkunden von 1230, 1241 und 1247 geht hervor, dass Turm und Mauer mit Stadttor vollendet wurden.

   

Mit dem Bau der Stadtmauer kontrollierte Graf Rudolf von Lenz- burg den Zugang zur Landzunge, zum Städtchen und damit auch zum Kloster und machte damit Rheinau zur ersten befestigten Stadt des Mittelalters im heutigen Kanton Zürich.

 

Zur Manifestation der dominanten Stellung des vermeintlichen, in Wahrheit aber unrechtmässigen Stadtherrn gehörten der Burgturm an der westlichen und die Eigenkirche St. Niklaus an er östlichen Flanke des damals noch unbesiedelten «Berges» über der Unterstadt, deren Bewohner die Felix- und Regula- Kirche auf der Klosterinsel als ihre Pfarrkirche besuchten

Aus der noch vorhandenen mittel-

alterlichen Bausubstanz im Gesellschaftshaus zur Stube lassen sich ein unterkellerter Turm und eine Mauer mit davor liegendem Graben ablesen. Da letztere ausserhalb des Gebäudes weiterführt, könnte es sich um eine ehemalige Um- fassungsmauer des Burghofes oder gar um einen Teil der Stadtmauer handeln.

Die Renovationsarbeiten von 1993 brachten den Eckverband des mittelalterlichen Turmes zum Vorschein.

«Opus spicatum» an der Westmauer des Burg-
turmes im Innern des Gesellschaftshauses:

Nach den Lenzburgern waren es die Edeln von Krenkingen, welche sich wiederholt des «Schlosses beim oberen Stadttor» (das untere war das Portal der Rheinbrücke) bemächtigten und das Kloster dermassen schädigten, dass ihnen das Handwerk von König Rudolf von Habsburg auf einem Heerzug 1288 persönlich gelegt werden musste.

Überrest der Stadtmauer von 1290 mit Blick auf die Berg- kirche, wo 1126 die erste Stadtbefestigung gebaut worden war und den Zugang zum damaligen Städtchen abriegelte.

Bild um 1875

Damals ging die Schirmvogtei an das Haus Habsburg-Laufenburg über. Graf Rudolf III. liess um 1290 im Blick auf einen möglichen Krieg nach dem Tode des Königs auf dem Keltenwall beim Hals der Halbinsel eine äussere Stadtmauer errichten und befahl der Bevölkerung, sich auf dem «Berg» anzusiedeln. Die Bergkirche wurde 1298 dem Kloster inkorporiert und zur Pfarrkirche der neu gebildeten Oberstadt. Das Rheinauer Schloss rückte damit von der Peripherie ins Zentrum des Fleckens. 1315 übernahm Rudolfs Sohn Hans «vogtey und vesti» zu Rheinau.

 

Unter den Grafen von Habsburg-Laufenburg verlebte Rheinau ein friedliches Jahrhundert. Sie übten das Amt des Landgrafen im Klettgau aus. Ihr letzter Spross, Hans IV., hatte seinen Wohnsitz auf der Burg Balm, am andern Rheinufer in Sichtweite von Rheinau. Bei seinem Tod 1408 hinterliess er seine Frau Agnes und die einzige Tochter Ursula

Nach der Hand dieser Tochter greift Graf Rudolf von Sulz und glaubt damit, Land- grafschaft und Schirmvogtei geerbt zu haben. Der Rheinauer Abt Hugo von Almishofen sieht dies anders, und es entbrennt eine jahrzehntelanger Streit, der 1439 zur vorübergehenden Besetzung des Rheinauer Schlosses durch die Grafen von Sulz führt.

Dieser alte Turm der Lenzburger mochte zuvor dem seit 1431 verbrieften Stadtpatriziat als «Stube» gedient haben. 1446 überfiel Graf Alwin von Sulz die Rheinauer Bürger in der «Stube» und schleppte elf von ihnen gefangen auf sein Schloss Balm.

Statt des geforderten Lösegeldes wurde ihm 1448 auf einem Gericht vor dem Herzog Albrecht von Österreich das Rheinauer Schloss zugesprochen. Nunmehr im festen Besitz der beiden Burgen Rheinau und Balm beidseits des Rheins, überfielen die Grafen von Sulz die Kaufleute und Warenzüge zu Wasser und zu Lande.

Um dem Treiben ein Ende zu setzen, zogen die Schaffhauser am 23. September 1449 vor die Burg Balm und brachen die Feste. Auch das besetzte Rheinau wurde befreit. In der Folge liess der Abt das unselige Schloss einreissen.

Die Zerstörung des Schlosses Balm. Das Burgglöcklein wird als Beute nach Schaff- hausen getragen, wo es noch heute im Fronwagturm hängt.

Diese Pfeilspitze, gefunden in Stubennähe, könnte von den Kämpfen um das Rheinauer Schloss im Alten Zürichkrieg stammen

Nachdem die Rheinauer Abtei 1455 die Eidgenossen zu ihrem Schirmherrn gewählt hatten, konnte die unschädlich gemachte Burg gelegentlich wieder  

einem Zweck zugeführt werden. Sofern es sich nicht um eine Zweitverwendung von Balken handelt, hat die Turmstube im zweiten Geschoss um 1480 eine schöne gewölbte Decke erhalten.

Der Ausbau zum prächtigen Reprä- sentationsgebäude, dem Gesellschaftshaus zur Stube, erfolgte um 1510. Dann nämlich wurden die

Bäume geschlagen zur Errichtung des mächtigen liegenden Dachstuhles: ein hölzernes «Gewölbe» von über acht Metern Höhe!

Das Haus zur Stube bekam nun die Funktion einer Art von Rathaus. Es war einerseits der mit Schankrecht versehene Sitz der Trinkstuben- gesellschaft, anderseits Versammlungsort von Schultheiss und Räten, von Stadtgericht und Schützengesellschaft. Auf dem Stubenplatz besammelte man sich auch im Alarmfall

Im Jahre 1803 wurde das Klosterstädtchen Rheinau zur Zürcherischen Landgemeinde. In der neuen Ordnung hatte die Stubengesellschaft keinen Platz mehr. 1813 kaufte der letzte «Baumeister» (Vorsteher) der aufgelösten Herrengilde das Gesellschaftshaus. Dieses hatte aber noch bis 1893 als Gemeindehaus zu dienen.

Mehrmals wechselte die Stube als Privathaus die Hand. Der südliche Annexbau von 1828 diente als Scheune.Die Stube war zum Wohnhaus mit der obligaten kleinen
Landwirtschaft für die Selbstversorgung geworden

Die Stube im Jahre 1916, zur Zeit der Bäckerei Stoll. Die Tür neben dem Schau- fenster führte in den Verkaufsladen

Das alte Haus an der Schulstrasse 6 vor der Renovation: gross, grau, unansehnlich

Im Jahre 1965 ging das Haus zur Stube in den Besitz des Kantons Zürich über. In dieser Zeit wurde leider der Keller des Burgturmes ausbetoniert. Das her- untergekommene Gebäude war schliesslich nicht mehr bewohnbar, bis es 1992 durch einen der Stubengesellen erworben und als prachtvoller Herrensitz wieder hergestellt wurde: